Vietnam: Der Kampf um das „Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit“ Teil 2.2

Durch die veränderte Art Berichterstattung, die im Verlaufe des Krieges zunehmend kritischer wurde und über Fernsehbilder auch eine breitere Schicht der Bevölkerung in den USA und Europa erreichte, wurde auch eine Öffentlichkeit für den Widerstand gegen den Krieg ebendort geschaffen. Dieser Abschnitt beschäftigt sich zum einen mit dem öffentlichen Protest gegen den Krieg, dem Widerstand in der Armee, weiterhin den Kriegsverbrechen und schließlich der Endphase des Krieges bis zum Kriegsende 1975. In einem dritten Teil sollen die Auswirkungen des Krieges bis heute und die Erinnerungspolitiken betrachtet werden. Zunächst jedoch soll der Blick auf den öffentlichen Protest gerichtet werden.

Teil 2.2

Bereits im März 1965, mit dem Einsatz der ersten US-amerikanischen Bodentruppen in Südvietnam, gab es schon erste Großdemonstrationen gegen den Krieg in Washington, an denen bis zu 25.000 Menschen teilnahmen. Im April 1967 fanden mit insgesamt knapp einer Million Teilnehmer in New York und San Francisco die größten Antikriegsdemonstrationen statt. Ebenfalls wichtig für die Mobilisierung der Antikriegsbewegung war das sogenannten Russell-Tribunals (nach dem Initiator Bertrand Russell). Im Mai 1967 fand dessen erste Sitzung in Stockholm statt. Zu den Mitorganisatoren gehörten auch Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, auch Peter Weiss war ein Mitglied des Gremiums. Das Tribunal stellte in dieser und seiner zweiten Sitzung im November/Dezember in Roskilde fest, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Krieg und um ein Kriegsverbrechen handelte. Ebenfalls stellte das Tribunal fest, dass fast eine Mio. Hektar Ackerland bis dahin durch Agent Orange verseucht wurden. Bis 1971 wurden 72 Mio. Liter Gift versprüht, von diesem Gifteinsatz waren 17 Mio. Menschen betroffen. Die nachfolgenden Generationen, die davon noch immer betroffen sind, sind in dieser Zahl nicht einmal berücksichtigt. Beteiligt an Giftproduktion waren auch die deutschen Konzerne BASF und der IG-Farben-Nachfolger Farbwerke Höchst. Die Kontinuität der Konzerne über die NS-Zeit hin in die BRD setzte sich auch bei den Zulieferungen und damit der indirekten Beteiligung am Krieg und den Kriegsverbrechen in Vietnam fort. 1965 waren sogar Bundeswehrsoldaten der Luftwaffe gegen die Vietnamesen im Einsatz. Auch verurteilte deutsche Kriegsverbrecher wie Otto Ambros, der durch seine Forschungen bereits an den Morden in Auschwitz beteiligt war, entwickelten für den Einsatz in Vietnam chemische Kampfstoffe weiter. In Zentralvietnam wurden Agent Orange und auch Napalm nahezu flächendeckend eingesetzt, dies hat verheerende Auswirkungen bis heute:

„In der während des Amerikanischen Krieges intensiv umkämpften Provinz Quang Tri, durch die mit dem 17. Breitengrad die ehemalige Trennungslinie zwischen Nord und Süd verläuft, sind noch immer knapp 100.000 Hektar Land von Minen, Bomben und Granaten verseucht. Zwischen 1975 und 2000 sind dort nicht weniger als 8.500 [!] Personen durch Restmunition gestorben – darunter etwa 7.000 Kinder. […] Der Alltag inmitten der verminten Felder von Quang Tri ist demnach weiterhin von den Kriegsfolgen bestimmt und macht die Überwindung der Armut in diesem Gebiet nahezu unmöglich.“ (Margara, S.19)

Das Jahr 1968 ist wohl das mit den meisten Todesopfern unter den US-Soldaten. Bereits zu Beginn des Jahres wurde, mit der Tet-Offensive, der Kampf seitens der FNL auf die Städte ausgeweitet. Es kam zu Straßenkämpfen in Huế und Sài Gòn. Die Offensive war aus Sicht der Befreiungsarmee durchaus erfolgreich, da 14 Stützpunkte der südvietnamesischen Armee kapitulierten. Als Konsequenz aus dem militärischen Erfolg der Befreiungsarmee folgte die erneute Brutalisierung des Bodenkrieges auf südvietnamesischer bzw. US-amerikanischer Seite. Am 16. März 1968 kam es zum Massaker von Mỹ Lai / Sơn Mỹ. Die in der Armee festgelegte Mordquote, der sogenannte „Bodycount“, bildet den Hintergrund für derartige Gräueltaten, denn es wurde den Soldaten ein Soll an Toten pro Einsatz auferlegt um den „Erfolg“ der Operationen zu demonstrieren. Einen großen Anteil an den Opfern in der Zivilbevölkerung durch derartige Gräueltaten hat das CIA-Programm „Phönix“, bei dem etwa 80.000 Menschen aus der Zivilbevölkerung als „vietcong-verdächtig“ eingestuft und knapp die Hälfte von ihnen auch ermordet wurde. Beim Massaker von Mỹ Lai / Sơn Mỹ wird deutlich, was in der Realität die Erfüllung dieser Mordquote zu bedeuten hatte: 502 getötete Dorfbewohner unter denen sich nachweislich kein Mitglied der FNL befand, aber im Bericht der Militäreinheit war von 69 „Vietcong“ die Rede. Dieses Massaker war kein Einzelfall, sondern eher eine „gängige Praxis“ – wie US-Soldaten auch vor Gericht aussagten – aber durch die Anwesenheit zweier Kriegsberichterstatter handelt es sich um den am besten dokumentierten Fall. Die US-Soldaten und –Reporter, die vor Gericht aussagten und den Fall bekannt machten, wurden diffamiert und erhielten Morddrohungen und den Berichten aus Vietnam wurde als „Kommunistenpropaganda“ keine nennenswerte Beachtung geschenkt. Bis heute sind nicht alle Massaker bekannt und aufgearbeitet; die Massaker von denen man weiß – auch wenn sie nicht das gleiche Medieninteresse erfuhren wie Mỹ Lai / Sơn Mỹ – forderten etwa 100.000 Opfer in der Zivilbevölkerung (Feldbauer bezieht sich auf eine Publikation von Bernd Greiner aus dem Jahr 2007). Ein Besuch im „War Remnants Museum“ in Hồ Chí Minh-City führt eindrücklich vor Augen, was bei Feldbauer zu lesen ist. Immer wieder Fotos von GIs die mit den abgeschlagenen Köpfen vietnamesischer Männer und Frauen posieren, Leichenberge, Jugendliche und Kinder in flehenden Positionen vor RSV- und US-Soldaten, die ihnen eine Schusswaffe an den Kopf oder ein Messer an den Hals halten und dazu die Berichte der Kriegsreporter und –fotografen verschiedener Nationalitäten. Sie ähneln sich, erschreckenderweise, alte Menschen die vor Angst starr sind und um ihr Leben flehen, kaltblütig erschossen, Kinder mit Gewehrkolben zu Tode geprügelt. Es fällt nicht schwer, sich hierbei an die Gräueltaten der SS in der Sowjetunion erinnert zu fühlen.

Ebenfalls im Sommer 1968 wurden durch Daniel Ellsberg und Anthony Russo die Zustände und Foltermethoden im südvietnamesischen Konzentrationslager auf der Insel Côn Đảo / Côn Sơn bekannt gemacht (siehe hierzu auch Teil 1) unter denen über 10.000 inhaftierte Menschen zu leiden hatten. Ellsberg und Russo gehörten einer Delegation der US-Regierung an die die Lager besichtigen sollte, zu den Trakten in denen gefoltert wurde – dort existierten auch die berüchtigten Tigerkäfige – wollte man sie nicht führen. Durch eine Karte, die ein ehemaliger Gefangener angefertigt und ihnen über die Widerstandsbewegung zugespielt hatte, gelangten sie zum entsprechenden Bereich und konnten dort die Misshandlung sogar mit Fotos dokumentieren. Da sie Angehörige der US-Delegation waren, verwehrte man ihnen den Zugang nicht (Bericht und Interview über den Besuch sind ebenfalls im „War Remnants Museum“ zugänglich). Nach Schätzungen von Amnesty International gab es im letzten Drittel des Krieges um die 300.000 politische Gefangene in Südvietnam, die alle in ähnlichen Lagern inhaftiert waren (vgl. Feldbauer S.87).

Im November 1968 wurde von der FNL in den von ihr kontrollierten Gebieten die Republik Südvietnam (RSV) ausgerufen um an den in Paris beginnenden Friedensverhandlungen zwischen der DRV, den USA und der RVN (Republik Vietnam) als vierte Partei teilnehmen zu können. Der Verlauf der Verhandlungen ist eng verknüpft mit dem Bombardement der DRV durch die USA. Parallel dazu erklärte die FNL in den Pariser Friedensgesprächen, dass US-Einheiten, die nicht das Feuer eröffneten, nicht beschossen würden. Dies trug dazu bei, dass der Widerstand in der US-Armee Aufwind bekam, denn daraufhin trugen die GIs teilweise rote Armbinden als Zeichen ihrer Sympathie mit der FNL. Zwischen 1966 und 1972 zählte man in den US-Streitkräften über 400.000 Desertionen. Dementsprechend konstatierte das „Armed Forces Journal“ im Juni 1971:

„Moral, Disziplin und Kampfbereitschaft der US-Streitkräfte befinden sich mit einigen wenigen herausragenden Ausnahmen auf einem Tiefpunkt und in einem schlimmeren Zustand als jemals zuvor in diesem Jahrhundert, vielleicht sogar in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Nach jedem nur denkbaren Maßstab steht unsere Armee, die sich jetzt noch in Vietnam aufhält, vor dem Zusammenbruch. Ganze Einheiten weichen dem Einsatz aus oder verweigern ihn, sie ermorden ihre Offiziere und Unteroffiziere, sind drogensüchtig und mutlos oder stehen kurz vor der Meuterei.“ (zit. n. Feldbauer S.107)

Es ist offensichtlich, dass die tägliche Brutalität nicht an den Soldaten vorbei ging, dieser Komplex ist für die US-Soldaten inzwischen gut erforscht und seit einigen Jahren gewinnen bei dieser Erforschung auch immer mehr die rassistischen Momente der Rekrutierungspraxis und Strukturen der Armee an Bedeutung (Feldbauer verweist hierzu auf Jonathan Neales Publikation von 2004 „Der amerikanische Krieg. Vietnam 1960-1975“ sowie auf den aus dem Jahr 2003 stammenden Sammelband herausgegeben von Dieter Brünn „Widerstand in der US-Arme.).

1969 verkündete die US-Administration die „Vietnamisierung“ des Krieges als Reaktion auf Proteste und insbesondere auf den Widerstand in den Reihen der Soldaten. Damit war der Beginn des US-Truppenabzuges aus Vietnam zwar eingeleitet und bis 1972 wurden 300.000 Mann abgezogen, jedoch wurde im selben Zeitraum die Armee der RVN auf ca. 1,2 Mio. (!) Soldaten Truppenstärke erhöht und es verblieben weiterhin etwa 200.000 US-Soldaten im Land. D.h. das Ende des Krieges war damit noch in keinster Weise absehbar. Die USA spekulierten auf eine Schwächung des vietnamesischen Widerstandes durch den Tod Hồ Chí Minhs im September 1969. Diese trat jedoch nicht ein und die Versorgung der Kämpfer im Süden wurde weiterhin über den sogenannten Tod Hồ Chí Minh-Pfad, einer vom Dschungel bedeckten Betonstraße entlang der laotischen Grenze, sichergestellt. Auf dieser Transportroute waren auch viele Soldatinnen der DRV und Befreiungsarmee im Einsatz (in der Dauerausstellung des Women’s museum Hà Nội ist diese Beteiligung gut dokumentiert, leider ist die Dokumentation bisher nicht in Buchform zugänglich).

Im Jahr 1971 zeigte man sich, über verschiedene Kräfte in der Republik Vietnam (RVN) hinweg, verhandlungsbereit eine Art Einheitsregierung mit der kürzlich ausgerufenen Republik Südvietnam (RSV) zu bilden, das Südvietnamesische Regime und die USA lehnten dies jedoch ab und so setzten sich die Kämpfe fort und im April 1972 kam es zu einer weiteren Offensive der Befreiungsarmee. Im Januar 1973 kamen die Pariser Friedensverhandlungen zumindest mit den USA zum Abschluss, diese unterzeichneten das Abkommen zur Beendigung des Krieges und erklärten den Abzug ihrer Truppen aus Vietnam. Etwa 58.000 US-Soldaten waren in Vietnam gestorben, nochmal so viele nahmen sich in den Jahren nach ihrer Rückkehr aufgrund der unbewältigten Traumata das Leben. Die Zahl der Versehrten, die der Krieg hinterließ ist nicht genau bekannt.

Seit 1973 war die Republik Vietnam (RVN) die Partei, die gegen die RSV – unterstützt durch DRV – Krieg führte, da diese die Abkommen ablehnten. Dies verschärfte die Situation der Bevölkerung erneut, wie etwa an dem Napalmangriff der südvietnamesischen Armee auf das Dorf Trảng Bàng abzulesen ist. Aus diesem Angriff stammt auch das bekannte Foto des nackten Mädchens, das aus seinem brennenden Dorf flieht. Eine weitere Verschärfung machte sich auch bei den Repressionsmaßnahmen der südvietnamesischen Regierung bemerkbar, denn 1973 drohte Präsident Nguyễn Văn Thiệu „Neutralisten und Kommunisten“ mit dem Tod. Es kam zu erneuten Festnahmewellen, bei denen etwa 60.000 Menschen verhaftet wurden. Die Verhafteten fanden sich teilweise in den Straf- und Konzentrationslagern Südvietnams wieder und wurden als Geiseln gehalten, mit denen ihre Familien und die Widerstandsbewegung erpresst wurden.

Weitere Verhandlungen zur Bildung einer Koalitionsregierung aller südvietnamesischen Kräfte scheiterten in den Jahren 1974 und 75. Am 25. März 1975, konnte die Befreiungsarmee Huế kampflos einnehmen, da die Regierungstruppen in Panik nach Đà Nẵng geflohen waren und alles, selbst ihre Stiefel, auf dem Weg zurückgelassen hatten. Im April wurde Dương Văn Minh als neuer Präsident eingesetzt, da Nguyễn Văn Thiệu sich nach Taiwan abgesetzt hatte. Dương Văn Minh unterzeichnete am 30. April 1975 die Kapitulation und übergab die Geschäfte an die provisorische Regierung der von der FNL ausgerufenen Republik Südvietnam (RSV). Die Evakuierungsszenen im Sài Gòn der letzten Kriegstage, werden oft allzu unbedarft als humanitärer Akt gedeutet, tatsächlich aber wurden vom Dach der US-Botschaft hauptsächlich US-Militärs und CIA-Agenten, das Botschaftspersonal und etliche hohe Mitglieder des südvietnamesischen Regimes evakuiert. Die übrigen etwa 130.000 Vietnamesen, die sich zuvor für den Erhalt der Republik Vietnam auf unterschiedliche Weise eingesetzt hatte, wurden von den einstigen Verbündeten zurück gelassen.

Literatur:

Gerhard Feldbauer: „Vietnamkrieg“ Köln, 2013. PapyRossa-Verlag.

Ly Ba Toan et. al.: „Hoa Lo Prison. Historical Relic“ Hanoi, 2013. Hongduc Publishing House.

Andreas Margara: „Der Amerikanische Krieg. Erinnerungskultur in Vietnam.“ Berlin, 2012. regioSpecta-Verlag.